Mittwoch, 4. Juni 2014

Dilemma


Ich kam an dem kleinen Kiosk vorbei, der mitten im Park stand. Der Besitzer öffnete gerade die Läden und steckte die Fahne mit der Eiswerbung in die Halterung. Er hob die Hand und winkte mir zur Begrüßung freundlich zu. Kurz entschlossen bog ich vom Weg ab und lief zu ihm.

„Hi, gibt`s bei Ihnen vielleicht schon Kaffee ?“ fragte ich.

„Natürlich !“ lächelte er und goss mir eine Tasse ein. Dann stellte er noch Milch und Zucker dazu und kramte nach einen Löffel.

„Kann ich noch eine Packung Zigaretten bekommen ?“

Er musterte mich von oben bis unten, schaute auf die Uhr und fragte einfach:

„Probleme ?“

„Geht so.“

Ich kramte nach den Dollarscheinen, die ich für Notfälle in der Potasche deponiert hatte. Er gab mir mein Rückgeld und ich setzte mich auf eine der Bänke, die dort in der Nähe standen. Der Kaffee schmeckte gut, selten bekam man in den Staaten richtigen Filterkaffee, meist war es eine durchsichtige Brühe, bei der man den Boden der Tasse sah, doch dieser war fast schon europäisch. Zufrieden trank ich ein paar Schlucke, zündete ich mir eine Zigarette an und inhalierte tief. Nachdenklich schaute ich mich um, besah die großen, alten Bäume, ihr dichtes Laub und die mächtigen Stämme. Was hatten die wohl alles schon erlebt und gesehen ? Wenn die reden könnten….. Unweigerlich musste ich wieder an Richie denken. Warum hatte ich das nicht gecheckt ? Hatten wir uns so gut verstanden, dass mir die große Nähe zwischen uns einfach völlig normal vorgekommen war ? Schließlich hatte ich auch zu meinen Jungs, insbesondere zu Stefan, eine sehr intensive, innige Beziehung, hinter der so mancher Fremder oft mehr vermutete.

Irgendwann merkte ich, dass die Sonne aufgegangen war, und ich sah zur Uhr. So lange saß ich hier bereits ? Zeit, umzukehren und nach Hause zu laufen. Ich wollte gar nicht daran denken, was mich dort erwarten mochte. Jon würde heute mit Richie reden und so wie ich ihn kannte, würde er das nicht auf die lange Bank schieben.

Zögerlich und mit einigem Unbehagen erhob ich mich und machte mich auf den Heimweg. Als ich am Kiosk die Tasse zurück gab, lächelte mich der Mann an.

„Alles Gute !“

„Danke, Ihnen auch !“ erwiderte ich.

Es half ja alles nichts, ich musste zurück. Außerdem war mir bereits kalt geworden, und ich hatte keine Lust, mich auch noch zu erkälten. Die verschwitzten Sachen klebten klamm an meinem Körper und so gab ich Gas, damit mir wieder warm wurde.

Vor dem Anwesen verlangsamte ich mein Tempo, lief ruhig aus und machte einen Satz über die Hecke. Im Garten absolvierte ich ein paar Dehnübungen, dann betrat ich die Küche.

„Hallo Rosita !“

„Nanu ? Du bist auch schon wach ? Und Du warst bereits beim Joggen ?“

Verwundert schaute sie mir ins Gesicht, es fehlte nur noch, dass sie sich die Augen rieb.

„Ist Jon schon auf ?“ fragte ich zurück.

„Ja, schon lange. Und er ist heute ungenießbar.“

„Oh je !“ entfuhr es mir. Das konnte ja heiter werden.

„Er hat nur eine Tasse Kaffee hinuntergestürzt und ist gleich zu Richie hinüber gegangen.“

Ich antwortete nicht, statt dessen griff ich nach einer Flasche Wasser und trank hastig.

„Sag mal, ist irgendetwas im Busch ? Habt Ihr Streit ?“

„Jon und ich haben nicht gerade Streit…..“

„Was ist es dann ?“

Sie unterbrach ihre Arbeit und trocknete die Hände am Geschirrtuch ab.

„Es geht um Rich…. Na ja, es geht ihm nicht gut und…..“

„Sandy, ich weiß, dass er trinkt. Und ich weiß, dass es ihm absolut beschissen geht. Aber was hat das mit Euch zu tun ?“

Ich konnte nicht anders, ich musste mit jemandem reden. Und dieses „was hat das mit Euch zu tun“ ließ ahnen, dass sie mehr wusste. Rosita war immer sehr verständnisvoll, außerdem würde Jon bestimmt nichts dagegen haben. Sie war schon zu lange bei ihm und hatte ihn zu sehr in ihr Herz geschlossen, als dass ich ihr jetzt nicht alles erzählen konnte. Ich gab ihr die Kurzfassung von allem, sie sah mich erst fassungslos an und nahm mich dann wortlos in ihre Arme. Sanft ließ sie ihre Hand auf meinem Rücken liegen und wollte mich beruhigen. Doch diese Geste ihrerseits ließ mir das Wasser in die Augen schießen. Sie hielt mich einfach fest in ihren Armen. Schließlich goss sie mir frischen Kaffee ein und reichte mir diesen mit einem mitleidigen Blick.

„Oh je ! Jetzt ist mir klar, warum Jon vorhin so angespannt war ! Oh mein Gott ! Wenn ich nur daran denke, dass er von Richies Absichten weiß !“

Sie seufzte tief aus ihrem Inneren heraus und sah mich ratlos an.

„Aber Du…..“

Sie stockte.

„Nein nein, Rosita ! Nicht was Du denkst ! Ich hab ja lange nicht gemerkt, wie es um Richie steht. Also…. mir gegenüber……Eigentlich hätte ich das auch nie für möglich gehalten.“

„In seiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken.“

„Ich auch nicht !“

Wir schwiegen eine Weile und endlich erhob ich mich und entschuldigte mich bei ihr. Ich wollte raus aus den feuchten Sachen und duschen. Lange, sehr lange ließ ich das heiße Wasser auf meine Haut prasseln, fast schien es, als wollte ich nie mehr aus dieser Duschkabine raus. Meine Gedanken waren im Haus nebenan, ich versuchte mir vorzustellen, wie das Gespräch zwischen den beiden wohl verlaufen mochte. Jedes Mal jedoch wischte ich die trüben Wolken wieder weg.

Nachdem ich angezogen und geschminkt war, beschloss ich, auf der Terrasse zu frühstücken. In der Küche suchte ich mir rasch ein paar Dinge zusammen und trug sie auf einem Tablett hinaus. Doch ich saß kaum dort draußen, als ich von nebenan laute, sehr laute Stimmen hörte. Dann und wann vernahm ich so etwas wie ein Poltern. Ich ließ meine Hand, die das Croissant hielt, sinken, der letzte Bissen blieb mir im Hals stecken.

Das Frühstück war eine unsinnige Idee gewesen, ich konnte nichts mehr essen. Nervös trank ich meinen Kaffee aus und zündete eine Zigarette an. Später fiel mir auf, dass ich eine nach der anderen rauchte. Mir war übel. Der Wind trug dann und wann einzelne Gesprächsfetzen zu mir herüber, ich konnte nicht alles verstehen, doch so langsam schien das Ganze zu eskalieren, denn beide Stimmen wurden lauter und lauter. Sollte ich hinüber gehen, konnte ich vielleicht schlichten ? Besser nicht. Wer weiß, vielleicht war ich gerade im Moment der Zankapfel. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jon dieses Thema ungesagt ließ, so gut kannte ich ihn mittlerer weile. Rosita kam heraus und fragte mich, ob ich noch etwas wollte.

„Nein, danke !“

„Es ist ziemlich laut, da drüben,“ sagte sie und zog eine leidige Grimasse. Man konnte ihr von weitem ansehen, wie nervös sie war.

„Ja, das ist es. Ich hoffe nur, sie schlagen sich nicht die Köpfe ein.“

„Gott bewahre !“

Erschrocken schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Toll, nun hatte ich ihr auch noch Angst gemacht ! Super Aktion, Sandy ! Insgeheim klopfte ich mir ironisch auf die Schulter, doch ich war selber aufgeregt, angespannt, ängstlich, alles auf einmal.

„Soll ich rüber gehen, was meinst Du ?“

„Nein, Sandy, bleib besser hier. Lass es die zwei alleine klären. Ich hoffe nur, sie sind erwachsen genug…..“

„Das hoffe ich auch.“

Sie saß mir gegenüber, knetete ihr Geschirrtuch zwischen den Händen. Ich nahm sie in meine und drückte sie fest. Dabei versuchte ich, sie möglichst optimistisch anzulächeln.

„Es wird schon alles gut gehen. Sie kennen sich ja lange genug.“

„Ach, Du weißt nicht, wie schlimm das beim letzten Mal war ! Sie haben damals kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Wenn Richie hier angerufen hat, hat Jon den Hörer abgenommen und einfach wieder aufgelegt, kann man sich das vorstellen ? Nein, das möchte ich nie wieder erleben !“

Wieder konnten wir ein lautes Poltern vernehmen. Erschrocken sahen wir uns an, verharrten in der angespannten Haltung. Keine von uns wagte es, sich zu bewegen. Dann, ein erneutes Knallen, eine Tür vielleicht ? Nur Sekunden später hörten wir die beiden Stimmen, wie sie einander anbrüllten, sich überschlugen, einander ins Wort fielen.

„Also, lange halt ich das nicht mehr aus !“ entfuhr es mir und ich merkte, wie mutlos ich wurde.

„Ich auch nicht !“

Mit hängenden Schultern erhob sich Rosita und kam wenig später mit frischem Kaffee zurück. Sie schenkte uns ein und wir tranken still, fast so, als ob wir bei jedem Schluck etwas verpassen würden. Plötzlich jedoch verstanden wir jedes einzelne Wort. Ich schlich zur Hausecke und spähte hinüber. Sie waren auf Richies Terrasse gegangen um zu rauchen.

„Du hast doch wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun, also echt ! Wie kommst Du darauf, dass ich Alkoholiker bin ? Und vor allem wie vermessen muss man sein, um zu glauben, ich wäre auf Deine Freundin scharf ? Jon, komm mal wieder runter, Du Supermann !“

„Komm Du mal besser wieder runter ! Glaubst Du eigentlich, ich bin so blöd, dass ich nicht gecheckt habe, was Du gestern Abend hier abgezogen hast ? Dass ich nicht weiß, wie Du sie neulich beim Training angestarrt hast ? Vielleicht säufst Du auch deswegen schon am frühen Morgen ? Richie, ich kenne Dich zu gut…..“

„Wenn Du mich so gut kennst, wie Du vorgibst, dann weißt Du auch, dass an dem ganzen Scheiß, den Du mir vorwirfst, kein einziges Stückchen Wahrheit ist !“

Wer hat denn sein Handy irgendeiner Tussi gegeben ? Mit unseren ganzen privaten Nummern ? Wer platzt in die Umkleide von MEINER Freundin und giert sie an ? Wer lässt gestern Abend ein Menü auffahren, das komplett und ausschließlich auf Sandy abgestimmt ist ? Und wer verpatzt in den letzten Monaten jeden einzelnen Termin, weil er vor lauter Suff nicht mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist ? Richie, das bist DU ! Du und nur allein DU !“

Jons Stimme war furchtbar laut geworden und hatte einen Ton angenommen, den ich noch niemals vorher bei ihm gehört hatte. Er flippte regelrecht aus. Jetzt hatten wir richtig Muffensausen.

„Weißt Du Superblondine eigentlich, was Du alles hast ?“

„Rich…..“

„Kannst Du mir mal verraten, warum Du – und immer nur Du – alles in den Hintern geschoben bekommst ?“

„Was zur Hölle meinst Du ?“

„Schau Dich doch um ! Super Haus, super Autos, super Freundin, Super-Jon ! Sogar Deine Gattin würde Dich wieder mit offenen Armen empfangen, wenn Du zu ihr zurück kriechen würdest.“

„Richie, was soll das ?“

„Schnallst Du es wirklich nicht ?“

„Nein, ich verstehe nicht…..“

„Okay, dann erklär ich es Dir. Du stehst im Scheinwerferlicht immer ganz vorne, die Mädels kreischen, sobald Du nur Deinen kleinen Finger bewegst. Du hast vier tolle Kinder. Du hast eine klasse Frau an Deiner Seite. Deine Charity-Sachen funktionieren auch alle bestens, sobald Du etwas anfasst, wird es zu Gold. Kapierst Du es jetzt ?“

„Aber Du und ich, wir machen doch so viel gemeinsam, in den letzten Jahren bist Du bei wichtigen Dingen immer an meiner Seite….. Außerdem lebst Du hier ja auch nicht schlecht….“

„Ja, genau. Mein Dad ist schwer krank, Heather ist mir davon gelaufen, Ava sehe ich nur noch selten…..“

Eine Pause entstand.

„Habe ich vielleicht eine Beziehung so wie Du ?“

„Richie, hör auf mit dem Quatsch ! Spielen wir jetzt das Spiel, wer von uns mehr hat ?“

„Ich sehe das einfach so.“

Die Stimmen wurden leiser, vermutlich waren sie zurück ins Haus gegangen. Rosita stand auf, und entschuldigte sich. Ich nahm an, dass ihr das Ganze zu viel wurde. Nur wenig später brüllten sie sich wieder an. Verzweifelt sah ich zur Uhr, wie lange ging das jetzt schon ? Doch ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie gelähmt blieb ich sitzen, wo ich war.

Eine gefühlte Unendlichkeit später kam er zurück.

Schatten lagen unter seinen Augen, wortlos nahm er meine Zigarettenschachtel, zündete eine an und inhalierte tief. Er sah mich nicht an, sprach kein Wort, rauchte nur und starrte auf den Boden vor sich. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen, geschweige denn, ihn anzusprechen. Verächtlich warf er die brennende Kippe in den Aschenbecher und stand auf.

„Ich bin in meinem Büro.“

„Willst Du nicht darüber…..“

„Nein. Versteh bitte, ich muss jetzt alleine sein.“

Er ging.

Ich rauchte eine letzte Zigarette, bis ich mich erhob. In der Halle nahm ich meine Handtasche und kramte in der Schüssel auf der Kommode nach einem Autoschlüssel. Die Tür zu Jons Büro war geschlossen, doch ich konnte hören, dass er telefonierte. Leise schloss ich die Haustür und ging zur Garage.

 

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Super es geht weiter!!! Super Missi!!! ich freu mich so !!!!!
LG Waldhexe

Anonym hat gesagt…

Danke,Missi. Fantastisch...ich freue mich so. Natürlich hab ich es nicht aufgegeben, hier beinahe täglich reinzuschauen. Lass uns nicht wieder eine gefühlte Ewigkeit auf den nächsten Teil warten, denn man möchte einfach immer weiterlesen...du machst das ehrlich gut!!!! :=))))))))))